Als „Ethnologin ihrer selbst“ veröffentlicht Annie Ernaux seit den 1970er Jahren autofiktionale Bücher in Frankreich. In Deutschland gewann sie erst viele Jahre später an Aufmerksamkeit, spätestens seit der Literaturnobelpreis-Vergabe 2022 wird sie auch hier als Größe der französischen Literatur gefeiert. Ernaux setzt sich in ihren Texten mit individueller und kollektiver Erfahrung, mit Identität und Klasse auseinander und schafft es dabei mit ihrer einfachen, aber präzisen Sprache persönliche Erfahrungen mit breiteren sozialen und historischen Kontexten zu verbinden.
Während Ernaux für ihr viel beachtetes Werk Das Ereignis in Rouen schreibt, lernt sie einen dreißig Jahre jüngeren Studenten kennen und beginnt ein Verhältnis mit ihm. In Der junge Mann seziert sie diese unkonventionelle Beziehung und was sie in ihr und ihrem Umfeld auslöste. Die bösen Blicke und wütende Reaktionen, die das Paar am Strand, in Cafés und Bars erhält, ärgern sie, anstatt sie peinlich zu berühren, amüsieren sie, anstatt sie zu verletzen. Der junge Mann wird ein Spiegel ihrer Vergangenheit und lässt sie an all das erinnern, von dem sie sich emanzipiert zu haben glaubte – der Arbeiter*innenklasse, der Armut und Scham. Ernaux wird in ihrem autofiktionalen Text wieder zum „skandalösen Mädchen, nun aber mit einem Gefühl der Befreiung.